Wie ich wurde, wer ich bin

Sommer 1969: Vier Wochen festgeschnallt in einer Art Brutkasten im Krankenhaus. Danach erkannte ich meine Eltern nicht mehr. Aus dem Bett eines Kinderheimes hatte ich kochendes Wasser über Gesicht und Körper verteilt. 5 Jahre später musste ich wieder hin. Der Kinderarzt diagnostizierte: Zu dünn für die Schule. Drei Wochen und unzählige Bestrafungen später, hatte ich mein Trauma nochmals durchlebt, diesmal emotional. Bis zu meinem 13. Lebensjahr wachte ich nachts auf und schrie nach meiner Mutter. Ich entwickelte mich zum Einzelgänger und Außenseiter, dabei wünschte ich mir Freundschaft und Liebe. Die Verlustängste hatten mich fest im Griff.

Zum Glück gab es meine andere Seite, meine Sonnenseite.

Mit 15 entschied ich, ein Jahr in die USA zu gehen, putzte mich fortan durch unsere Wohnung und sparte das Geld, das ich dafür bekam. 1984 stieg ich in ein Flugzeug. Ein Jahr bei einer mir unbekannten Gastfamilie. Ich ging in die Schule, spielte Basketball und rannte, erlebte Sport ein erstes Mal positiv, malte und werkte, fand Freunde, war beliebt und blieb trotz allem ein Außenseiter. Ich lernte, damit zu leben und richtete mich ein. Die Sehnsucht blieb. Das Jahr verging im Flug, Heimweh hatte ich nie. Die Wochenenden verbrachte ich bei den Schwiegereltern meines Bruders, die liberaler waren. Ich lernte die Amerikaner als freundlicher und unterstützender als meine Landsleute kennen und dachte, ich würde nicht mehr zurückwollen. Dann traf ich Bobby, einen Schwarzen mit Jimmy-Hendrix-Locken, und freundeten uns an. Mein Gastvater teilte meine Freude darüber nicht. Mein Schwiegereltern-Vater rettete uns. Wir trafen uns fortan bei ihm. Mein Gastvater wurde noch wütender. Ich wollte dann doch zurück.

Wieder in Deutschland begann die Schule mit 6 Monaten Probezeit. Ich schaffte es trotz Physik, Chemie und Mathe. Niemand, außer meine Schwägerin, bemerkte, dass ich ein Jahr übersprungen hatte. Ich auch nicht. Meine Eltern bemerkten die 4 in Geschichte und Erdkunde. Weil das Jahr so beeindruckend war, flog ich im Sommer 86 nach Los Angeles und verliebte mich. Im Sommer 87 wollte ich ihn wiedersehen, flog erneut, diesmal auf die Schnauze. Der Wunsch war einseitig. Statt turtelnd am Venice Beach abzuhängen, verlief ich mich im Nirgendwo und endete mit Mumps in der Klinik, wo heute vermutlich noch Fotos von mir hängen.

Nach dem Abi interessierte mich zu viel. Ich jobbte in einer Kanzlei und begann, Jura zu studieren. Mein Vater war stolz und erzählte jedem von der zukünftigen Staranwältin. Nach 5 Semestern schmiss ich hin. Die Gesprächsthemen meines Vaters änderten sich fortan. Mit Anfang 20 stopfte ich das Loch einer geendeten Beziehung mit Sport und fand meine Leidenschaft. Ich wurde Aerobic Trainerin und lernte das erste Mal im Leben Hingabe und Disziplin kennen. Mit 30 entschied ich mich für ein Sportstudium, wofür ich mein geliebtes Freiburg verließ. Parallel heiratete ich und dachte, jetzt würde das Leben richtig beginnen. Kaum war die Hochzeit vorbei, verfiel ich in Depressionen. 12 Jahre begleitete mich fortan eine Therapeutin, die Erinnerungen an Kinderheime und dem Gefühl immer und überall zu viel zu sein. 2000 machte ich mich als Personal Trainerin selbständig. Nach 6 Jahren Ehe trennte ich mich, lebte eine Fernbeziehung, die im Chaos endete, fast zeitgleich mit dem Bankencrash, was meine Kunden absent und mich arbeitslos werden ließ. Langsam hatte ich keine Lust mehr. 2006 lernte ich meinen zweiten Mann kennen. 2010 ließ er sich von mir scheiden. 2011 beschloss ich, Single zu bleiben, was mir bis 2019 auch glückte. Es war die beste Zeit meines Lebens. So gesehen. Anders betrachtet, war es die schlimmste.

2010 verbrachte ich damit, meine alten Eltern samt Hab und Gut in Seniorenheime zu bringen und ihre Wohnung auszuräumen. Meine Brüder hatten anderes zu tun. Fast täglich wühlte und heulte ich mich Stunden durch 60 Jahre Leben. Irgendwann fand ich die Entlassungspapiere meines Vaters aus französischer Kriegsgefangenschaft und einen Ordner über meinen Unfall. Darin handschriftliche Notizen, von denen ich nichts wusste. Nie war ich meinem Vater näher als in diesem Moment.

Bis April desselben Jahres arbeitete ich in einem Café, wo ich über Monate Mobbing ausgesetzt war, was dazu führte, dass ich laute Geräusche nicht mehr ertrug. Ruhe fand ich nur im Wald mit meinen beiden Hunden.

2011 im September starb mein Vater. Ich kümmerte mich um die Beerdigung. Meine Brüder kümmerten sich um ihre Angelegenheiten. Meine Mutter wollte meinen Vater aufgebahrt nochmal sehen. Ich ging mit. Es war so kalt dort drin.

Mit 40, hatte sie mir immer erzählt, hätte sie sich auf die schönste Zeit ihres Lebens gefreut. Dann sei ich gekommen. Vor Wut haute sie sich auf den dicken Bauch, den sie unter einem weiten Mantel versteckte. Einmal fiel sie die Treppe herunter. Ihr Arzt fragte, ob sie mich loswerden wolle. Was sie antwortete, hat sie nie erzählt.

2012 starb die eine Hündin an einer Magendrehung. Wenn ich jemanden hasste, dann würde ich ihm wünschen, das durchzumachen. Die andere trauerte ein halbes Jahr und wurde nie wieder die Alte. Ich heule heute noch.

2013 übernahm ich ein Fitnessstudio. Mein Steuerberater prüfte die Bilanzen. 300 Mitglieder, das sollte eine Basis sein. Im Februar 2013 erfuhr ich, dass die ehemalige Betreiberin Insolvenz angemeldet hatte und dass ich die Mitgliederdaten nicht bekommen würde. Ich machte ohne Mitglieder auf. Das Studio stand unter keinem guten Stern. Am 31.12.2013 schloss ich die Tür und dieses Kapitel wieder. Dachte ich. Danach ging der Ärger erst richtig los.

2015 starb die zweite Hündin, mein Seelenhund. Eine verschleppte Mandelentzündung. Am Ende waren ihre Hinterläufe gelähmt und ich musste sie einschläfern lassen. Die nächsten zwei Jahre konnte ich keinen Hund sehen. Wald auch nicht.

Bis 2016 versuchte ich noch, meine Schulden aus 2013 zurückzuzahlen. 2017 im Juli meldete ich Insolvenz an. Das erste Mal seit Jahren schöpfte ich wieder Mut. Meine Mutter starb im Oktober 2017, kurz bevor ich auf eine mehrwöchige Reise gehen wollte, die mir meine Magisterarbeit ermöglicht hatte. Ich dachte, dass sie mir das Leben sogar zum Schluss noch versaut. Alle regten sich auf, dass ich mich nicht kümmerte und dieses Mal meinen Brüdern überließ.

Inzwischen sind 6 Jahre vergangen. Im Juli 2023 endete die Insolvenz und damit das Kapitel, das 2013 begann. 10 Jahre. Eine lange Zeit. Inzwischen auch wieder Single, bewegte mich all das im letzten Jahr dazu, mich endlich meinem letzten großen Thema zu stellen: Meine Finanzen. Ich begann, alles zu lesen, was mir in die Hände fiel und fand Freude daran. Langsam bekomme ich auch hier die Kontrolle und das Verständnis, das mir von zu Hause aus leider nicht mitgegeben worden ist.

Im Dezember 2022 stellte sich dann die eine entscheidende Frage: Was kann ich richtig gut? Und fand die Antwort: Wenn ich in all den Jahren eines gelernt hatte, dann, in Lösungen zu denken und sie in Taten umzusetzen. Mal sehen, wo mich die Reise in meinen drei Bereichen Stop it, Gustav!, problem|los in Lösungen denken und Susa’s Sight Photography hinführen wird. Es bleibt auf jeden Fall spannend ...

P.S. Mit meinen Eltern habe ich meinen Frieden geschlossen und meine Brüder liebe ich trotzdem.